Anlässlich der Covid-19-Pandemie und den damit verbundenen Auswirkungen auf alle Schultheaterprojekte bat die Redaktion Tonio Kempf, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands Theater in Schulen in der Doppelspitze mit Ulrike Mönch-Heinz, um ein Interview in Bezug auf die aktuelle Situation. Tonio Kempf ist u.a. Theaterlehrer an der Klosterschule und war zusammen mit Bernd Ruffer in der Doppelspitze Vorstandsvorsitzender des Fachverbands Theater in Schulen Hamburg. Er war auch TUSCH-Beauftragter seiner Schule in Kooperation mit dem Deutschen SchauSpielHaus.

Tonio, wie hat Covid-19 die für 2020 geplanten Projekte des BVTS seit letztem März durchkreuzt?

Durchkreuzt passt da wirklich. Wir haben unsere beiden Großveranstaltungen, das für September geplante Schultheater der Länder (SDL) und die für November geplante Zentrale Arbeitstagung (ZAT) in Wolfenbüttel absagen müssen. Das eine bedingt dabei das andere: Nachdem klar war, dass das SDL in diesem Jahr nicht als Begegnungsfestival in Ingelheim wird stattfinden können, haben wir den Fokus geändert, von analog auf digital umgestellt und wegen der Aktualität das für 2021 geplante SDL-Thema „Theater.Digitalität“ vorgezogen. Als Impuls für den Forschungsprozess hin zum SDL 2021 in Ulm werden wir im Herbst dazu eine ONLINE-ZAT veranstalten. Dabei wollen wir das aktuell so wichtige politische Thema „global.lokal“ nicht aus den Augen verlieren und haben auf der SDL-Seite htpps://www.sdl.2020.de einen Digitalen Probenraum und eine Digitale Bühne eingerichtet, auf der Spielgruppen ihre Auseinandersetzung mit dem Thema digital transformiert präsentieren können: Was soll sich wie verändern?

Die Absage des SDL war sicher die schwerwiegendste politische Entscheidung des Vorstands?

 Ja, damit haben wir uns sehr schwer getan, da sich viele Spielgruppen intensiv mit dem SDL-Thema 2020 „global.lokal“ auseinandergesetzt haben und nach Ingelheim auf den Weg gemacht hätten. Auch war die Organisation des Festivals ja schon sehr weit fortgeschritten. Wir haben zunächst den Bewerbungstermin noch einmal verlängert. Aber nachdem in einigen Bundesländern Klassenreisen bis zum Jahresende ausgesetzt worden waren und einige Gruppen nicht hätten anreisen können, haben wir uns schweren Herzens zur Absage entschlossen.

Wie haben die sechszehn Landesverbände des BVTS reagiert?

Mit großem Bedauern, aber mit viel Empathie und Verständnis in dieser für uns alle schwierigen, neuen Situation, vor allem auch mit den Organisatoren. Gerade die Vorsitzenden, die schon ein SDL ausgerichtet haben, wissen, wie viel Organisation da schon im Vorweg geleistet werden muss. Zum Glück können wir wohl vieles davon ins Jahr 2022 übernehmen, wenn das SDL hoffentlich in Ingelheim zum politischen Brennpunkt-Thema „Glokalität“ wird stattfinden können.

Was bedeutet der seit März total ausgefallene bzw. der nun ab Juni bis zu den Sommerferien nur partiell stattfindende Präsenzunterricht für das Schultheater?

Schultheater muss sich in dieser „neuen Normalität“ auch mit Hilfe digitaler Möglichkeiten neu zurechtfinden, da Begegnung anders, mit mehr räumlichem Abstand stattfinden muss. Schultheater kann zeigen, dass es diese Veränderungen in besonderer Weise im Zusammenspiel unterschiedlicher theatraler und digitaler Ausdrucksformen reflektieren und mit ihnen spielerisch umgehen kann. Das, was Lern- und Bildungsprozesse ermöglicht, Beziehung und Begegnung, sind dem Fach Theater als sozialer Kunst inhärent. Deshalb muss Schultheater gerade in Corona-Zeiten sein!

Covid-19 traf ja alle künstlerischen Fächer bis ins Mark. Kann man sagen, dass Schultheater besonders betroffen war bzw. immer noch ist?

Grundsätzlich haben es gerade alle Fächer außer den Kernfächern schwer, weil die Unterrichtszeit für die Schüler:innen aufgrund der kleineren Teilgruppen so begrenzt ist. Daraus wird gefolgert, Deutsch, Mathematik, Englisch, vielleicht noch die Natur- und Gesellschaftswissenschaften seien nun das Wichtigste, auch, weil sonst die in der Corona-Zeit verpassten Lerninhalte nicht mehr kompensiert werden könnten. Deshalb sollen die Schüler:innen ja am liebsten in den Ferien in der Schule lernen dürfen. Über das, was sie da tatsächlich qualitativ und quantitativ wie lernen sollen, wird nicht gesprochen. Diese Orientierung am Defizitmodell, an Basiskompetenzen und Lernstoff, der für die Note gepaukt werden muss, statt an Bildungskompetenzen eines selbsttätigen, ganzheitlichen Lernens (wozu soll ich das jetzt hier wie lernen?), ist etwas, woran Leistungsgesellschaft und Ausbildungspolitik schon zu lange kranken und was wir mit Corona überwinden sollten! Theater bietet dafür als Fach die Bildungschance für komplexe, problemorientierte Kreativ-Spielräume, die so motivierend sein könnten, dass Schüler:innen, die in den Ferien allein sind oder sich langweilen, anfangen, kreative Projekte zu planen, in ihrer Freizeit dafür recherchieren, lesen, schreiben, tanzen, singen, Videos drehen und diese mit ihrer Spielgruppe teilen, weil ihnen die Sache wichtig ist. Dadurch lernen sie mehr, als wenn sie in der Schule beschult und direktiv unterrichtet werden, was sie tun müssen. Für solche Lernsituationen brauchen wir tatsächlich mehr Raum und Zeit!

Welche aktuellen Ratschläge gibt der BVTS seinen Mitgliedern und welche Schlussfolgerungen zieht der BVTS aus der Pandemie für den zukünftigen Theaterunterricht?

Schultheater kann sich jetzt in besonderer Weise unter diesen schwierigen Bedingungen als soziale Kunst beweisen. Wie können wir „Social Distancing“, für mich eines der Unworte des Jahres, überwinden? Ich kenne Theaterlehrer:innen, die ihre Schüler:innen in der Coronazeit unter Wahrung von Abstandsregeln zu Hause besucht haben, die andere, auch digitale Formen des Miteinanders und Probens mit ihren Gruppen erfunden haben. Theaterunterricht kann das, was in der Corona-Pandemie am meisten gefehlt hat, soziale Begegnung und Dialog, in besonderer Weise initiieren: Wir erforschen miteinander in unterschiedlichsten theatralen und digitalen Formen und Welten spielerisch ein Thema, das uns wichtig ist – z.B. Nähe und Distanz. Dadurch lernen wir auf vielfältige Weise. Digitalisierung verändert unsere Wahrnehmungs- und Begegnungsformen grundsätzlich im Großen und im Kleinen, und Theaterunterricht kann sich mit Digitalität produktiv auseinandersetzen, wenn es diesen Prozess im Theaterspiel wahrnimmt und reflektiert.

Wir haben in den letzten Monaten auch gesehen, wie produktiv und hilfreich der digitale Austausch über Theaterunterricht sein kann. Dafür möchte ich der Theaterabteilung des Landesinstituts meinen Dank für seine Padlets abstatten! Im BVTS wollen wir diesen Austausch über die Ländergrenzen hinweg durch digitale Formate wie das SDL20.2.0, die Online-ZAT, den Digitalen Fokus Schultheater und nicht zuletzt das Digitale Forum ermöglichen und weiter intensivieren. Dabei hoffen wir sehr auf euer Forschungsinteresse an neuen Formen des Theaters, die entstehen werden, und freuen uns auf einen vielfältigen Diskurs darüber zwischen Menschen, die sich für Theater und Schule einsetzen und Gesellschaft gestalten wollen.

 

 

Foto: Tonio Kempf