von Gunter Mieruch

Wer hätte gedacht, dass zwischen dem Februar- und diesem Mai-Newsletter die Welt Kopf steht? Dass sie gerade „auf Sicht fährt“? Dass ein Virus Pläne, Vorhaben, Zukunftsideen, angefangene Projekte blitzschnell Makulatur werden lässt? Die Künste, Kulturelle Bildung mir nichts dir nichts marginalisiert? Insbesondere Kinder und Jugendliche in Zustände, die vielfach mit „Lagerkoller“ beschrieben werden, treibt? Wie kann man noch planen, wenn das Gefühl vorherrscht, dass man von einem Tag auf den anderen lebt, denn was morgen kommt, weiß niemand.

Im Folgenden trage ich ein paar Gedanken zusammen, die sich vorwiegend mit den Auswirkungen der Corona-Krise auf den Gegenstand der Kunstform Theater bzw. der Theater als künstlerische Veranstaltungsorte beziehen und damit auch das Programm TUSCH unmittelbar tangieren. Die Sammlung beruht auf verschiedenen Quellen und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Objektivität.

Situation der Schulen

Nun öffnen sich nach sechswöchiger bzw. achtwöchiger Pause (inklusive Märzferien) die Schulen allmählich für den Unterricht. Kaum vorstellbar, dass er bald wieder „normal“ abläuft. Oder „neu normal“. Es ist ja noch nicht abschließend geklärt, was diese „neue Normalität“ (Olaf Scholz) sein soll, von der in diesen Tagen so viele sprechen. Meistens sind jedenfalls Dinge gemeint, die man sich noch vor kurzem kaum hätte vorstellen können. Oder wollen. Zum Beispiel, dass Kulturelle Bildung und Künste gänzlich ausfallen. Priorität haben die sogenannten Kernfächer: Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen. Das ist nur schwer nachvollziehbar, auch wenn der Präsenzunterricht nur partiell erteilt wird. Der ausschließlich während der Schulschließung erteilte kognitive Fernunterricht wird dadurch nochmals dominanter. Das bedeutet, dass soziale und kulturelle Teilhabe den Kindern und Jugendlichen bis auf Weiteres vorenthalten wird. Aber gerade in dieser Zeit sind ästhetische Erfahrungen, die  das Erleben, Denken, Handeln und Fühlen Schüler:innen der vergangenen Wochen aufnehmen und künstlerisch verarbeiten, eminent wichtig. Aber immerhin: In die Schulen kehrt wieder Leben ein.

Situation der Theater

Was ist aber mit den Theatern? Sie bleiben erst einmal geschlossen. Bis zum 30. Juni heißt es. „Jetzt arbeitet hier niemand mehr. Leere Bühne, leere Plätze. Ein bisschen gespenstisch“, beschreibt der Künstlerische Leiter der Schaubühne Berlin, Thomas Ostermeier, die Atmosphäre. Er selbst fühle sich wie in Schockstarre. So wie ihm ging es wohl den meisten Theatermacher:innen. Das ist ein herber Schlag und kann wie für die an Covid-19 gestorbene Patienten sich auch vor allem für die kleineren privaten und die freien Theater(gruppen) letal auswirken. Viele Kulturschaffende aus dem Kunst-, Musik- und Theaterbetrieb, die Soloselbstständigen – ein Segment, das von immer neuer Nachfrage lebt oder auf öffentliche Kontexte angewiesen ist –, sind in eine bedrohliche Situation geraten. „Der Aus­nahmezustand trifft Theaterkünstler:innen besonders hart. Insbesondere in der Freien Szene wirkt die Situation unmittelbar existenzbedrohend und gefährdet mühsam erschaffene Infrastruk­turen. Das Coronavirus verschärft die Frage der sozialen Gerechtigkeit, der Chancen­gleichheit und der Grundsicherung im Feld der Künste und wir können dankbar sein, dass in den letzten Jahren zahlreiche neue Interessenvertretungen entstanden sind, deren Netzwerke jetzt kraftvoll senden. Nun, da die Pausentaste durch das Virus welt­weit gedrückt wurde, sehen wir die Gesell­schaft am Scheideweg zwischen einer posi­tiven Globalisierung, die von Solidarität geprägt ist, und einer negativen, die demo­kratische Standards reduziert.“ (1)

Was haben wir bislang eigentlich mit „Corona“ verbunden?

Viele Begriffe haben wir uns in diesen zwei Monaten angeeignet bzw. aneignen müssen: Shutdown, Lockdown, Social Distancing, Homeoffice, Homeschooling, Abstandsregeln, Systemrelevanz, neue Normalität, Geisterspiele, Öffnungsdiskussionsorgien, Corona-Party  … Das Wort Corona hat jetzt seine Unschuld eingebüßt, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt: Corona war einmal ein Begriff, vor dem man keine Angst haben musste – im Gegenteil. Er stand unter anderem für Zigarrenrauch, Sonnenkranz, Autodesign und eine Heilige. „Corona war in der Antike etwas Schönes, Feierliches, Hoffnungsvolles. Nicht jetzt, aber in der Grundbedeutung des Wortes. Mediziner haben den Coronaviren diesen Namen gegeben, weil die Erreger, unter dem Mikroskop betrachtet, eine auffällige Bekränzung aufweisen – das heißt auf Lateinisch corona. Kränze aus Zweigen mit Blättern oder Blumen waren ein festliches Zeichen in der antiken Religion. Priester und Opfernde trugen sie, man setzte sie Götterbildern und Statuen auf. Das Binden der Kränze war ein eigener Beruf. Eine Corona auf dem Kopf verlieh man sich auch als Zeichen der Freude oder des Rausches, der Tugend und Ehre, man bekam sie für einen Sieg im Krieg und im Sport oder für die kaiserliche Würde. Eine corona civica wurde verliehen, wenn man einem Mitbürger das Leben gerettet hatte. Als Preis im Wettbewerb der Dichter wurde die Lorbeer-Corona zum Ausdruck kreativer Inspiration, was Francesco Petrarca im 14. Jahrhundert für die Neuzeit symbolisch fortführte (2).

Die Herkunft des Begriffs ist demzufolge überaus positiv besetzt, bevor er nur noch eine unheilvolle Infektion bedeutete. Diese ersten negativen Konnotationen deuteten sich z.B. in „Asterix in Italien“ (2017) an. Da tauchte der Wagenlenker Coronavirus als Bösewicht auf. Im Rennen der Nationen ist er der finstere Favorit. Darüber hinaus – das Wort in der Schreibwiese „Korona“ kannten wir schon länger: „Korona“ bezeichnet laut Duden auch eine „Gruppe, Ansammlung von (jüngeren) Menschen, die gemeinsam etwas unternehmen“. Das müssen also diese Leute sein, die sich jetzt zum Feiern in Parks treffen, bis die Polizei sie mit Lautsprecherwagen nach Hause schickt. Aus diesem etymologischen Material könnte man eigentlich ein Theaterstück entwickeln.

Erste Erkenntnisse

Darüber hinaus beschleunigte die Corona-Krise die Digitalisierung im Bereich der Kommunikation rasant. Auch hier waren Begriffe wie Zoom, jitsi, Facetime für Videokonferenz-Software oder Padlet von MrTree, Vicole für Lernplattformen im schulischen Bereich und Moodle im universitären Bereich plötzlich in aller Munde. Die entsprechenden Apps überboten sich in ihrer Vielfalt und unterschiedlichen Datensicherheit.

Vor allem habe ich einige traurige Erkenntnisse gewonnen: Zu den systemrelevanten Branchen gehören ganz offensichtlich weder die Kulturelle Bildung noch die Künste, schon gar nicht Theater. Doch: „Gerade jetzt sind Werte und deren Vermittlung gefragt. Besonders nach und in Krisen suchen Menschen nach Orientierung, die sie in der Kunst und Kultur finden. Wie kann das nicht systemrelevant sein? Die Kunst ist ja immer auch eine Antwort auf das Leben als Ganzes, bezaubert, zieht uns in ihren Bann, macht Hoffnung, leitet die Menschen zu anderen Gedankengängen, anders sie sich etwas vorgestellt haben. Gerade jetzt in dieser schweren Zeit bietet der Besuch einer Ausstellung den Menschen eine Perspektive. Zu Hause fällt den Leuten die Decke auf den Kopf.“ (3)

Viele Kollateralschäden sind allerdings auch erschreckend: Bei nahezu jeder Pandemie vorher gab es Phänomene der Ausgrenzung, Stigmatisierung und der Verdächtigung und Denunziation.“ (4) Man lese nur das Buch „Nemesis“ von Philip Roth über die Influenza in den 1920er Jahren oder „Die Pest“ von Albert Camus über den Verlauf der Pestseuche in der Stadt Orlan an der algerischen Küste aus dem Jahr 1946. Ähnliche Erscheinungen haben sich auch in in der Corona-Pandemie gezeigt. Vor allem sind die Vermutungen über Gewalt in Familien insbesondere gegenüber Kindern beängstigend.

Dennoch kann man Krise auch etwas Positives abgewinnen, weil sie zugleich die Relevanz des Theaters für die Gesellschaft neu ins Bewusstsein hebt: „Theater ist wahrscheinlich die sozialste aller Kunstformen. Die sich ihm anvertrauen, ob im Publikum oder auf der Bühne, machen Erfahrungen, die nicht übereinstimmen, aber gemeinsame sind, in einem gemeinsamen Raum. Daraus entsteht – vielleicht – ein Gespräch, eine Begegnung. Diesen Möglichkeitsraum hat die gegenwärtige Corona-Krise verschlossen. Sie hat den Anderen, jeden Anderen, zum potentiell Verdächtigen werden lassen. Social distancing ist nur ein anderes Wort für dieses grundsätzliche Misstrauen. So berechtigt dies derzeit sein mag: Wenn es nach der Krise darum gehen wird, das Gespräch wieder zu beginnen, Begegnungen zu üben, wird das Theater unverzichtbarer sein denn je.“ (5)

„Ausnahmezustände gehören zum Leben dazu. Auch wenn man sie zum ersten Mal erlebt. Man muss nur aufpassen, dass man bei der Verhandlung um die neue Welt nicht betrogen wird. Errungenschaften wie Selbstbestimmung, Privatsphäre oder ein Asylrecht sind nicht selbstverständlich. Man muss sie erkämpfen und behaupten… Wir können in jeder Krisenzeit Theater machen, aber nicht in dieser. Menschen brauchen Kontakt, wir brauchen es, in einem Raum Realität zu fantasieren. Einen Großteil unserer Zeit verbringen wir in Fantasie. Ab und zu müssen wir diese Räume gemeinsam betreten, sonst sind wir allein. (6)

Reaktion der subventionierten Theater auf Corona

Wie gehen nun die subventionierten Theater nach der ersten Schockstarre mit der Zwangspause ihrer Häuser um? Man hat den Eindruck, dass sie ähnlich wie die Politik fast alle „auf Sicht fahren“, das ist in der Corona-Krise ein gern gebrauchtes Bild. Schon weil es besser klingt als: keine Ahnung, wo es hingeht. Überwiegend mit einer Belegschaft in Kurzarbeit, mit ausgesetzten Proben, mit ungewisser Perspektive wann der Spielbetrieb wieder aufgenommen werden kann und in welcher Form. Hier ein paar Stimmen aus Hamburg und Berlin.

Im April-Newsletter Kampnagel lesen wir: „Ganz Europa, vielleicht die ganze Welt, fährt gerade »auf Sicht«. Auch wir arbeiten mit Hochdruck auf Sicht – und versuchen uns für die neue Spielzeit in großen Visionen unter Vorbehalt – immer mit dem Bewusstsein, die Planungen gegebenenfalls schnell ändern zu müssen.“ (7)

Der Intendant des Thalia Theaters, Joachim Lux, stellt sich die Frage, ob wir zum Beispiel in der Vergangenheit eine zu perfekte Kulturproduktionsstätte gewesen seien. „Die immer termingerecht und halbwegs perfekt liefert. Vielleicht steht vor uns eine Zeit in der wir unsere Arbeit viel offener, viel roher und fragmentarisierter präsentieren. Wir müssen die Erfahrung mitnehmen in unsere ästhetische Umsetzung … Das Theater ist doppelt gekniffen: Es lebt davon, dass Zuschauer und Schauspieler körperlich anwesend sind. Und es lebt davon, dass auf der Bühne Menschen ohne Kontaktbeschränkungen miteinander Dinge verhandeln. In beiden Punkten sind wir jetzt lahmgelegt. Theater ist die ästhetische Repräsentation der Welt – das fehlt jetzt komplett … Wenn das über längere Zeit ausbleibt, hat es etwas von einem innerlichen Verstummen. Wenn das gemeinschaftlich Größere fehlt, stirbt eine Gesellschaft von innen… Wenn wir von kompletter Risikovermeidung sprechen, können wir nicht agieren. Mit zwei Metern Abstand und Plastikabschirmung zu spielen, mag im Einzelfall lustig sein, aber das ist natürlich künstlerisch keine Perspektive. … Das gesamtgesellschaftliche Dauer-Cocooning birgt die Gefahr einer Überhitzung. Gibt es Stoffe, die diese Kasernierung im Familienkreis erzählen? … Wie gestalten wir die Pausen, wie den Einlass, die Foyersituationen, die Besucherströme? … Wir hoffen, dass die Entzugserscheinungen so enorm werden, dass die Wertschätzung umso größer sein wird, wenn wir wieder da sein können.“ (8)

Die Intendantin Karin Beier vom Deutschen SchauSpielHaus will endlich mit Proben für ihr kommendes Saisoneröffnungsstück „Reich des Todes“ von Rainald Goetz starten und lässt für ihre Schauspieler:innen absurde Probenkostüme anfertigen. Es sind „Gestelle, die an Reifröcke erinnern. Aus leichten, gelben und türkisgrünen Schaumwürsten, die sonst beim Seepferdchenkursus oder in der Seniorenwassergymnastik zum Einsatz kommen: Schwimmnudeln eben. In diesem Fall werden sie zu spielerischen Abstandshaltern, gedacht für Schauspieler, die unbeschwert proben sollen, ohne sich zurückzuhalten und ohne sich im Eifer des Gefechts zu nah zu kommen. Merkwürdige Zeiten erfordern unkonventionelle Lösungen“ . Sie hat auch eine ein digitales Format kreiert: “SchauSpielHausBesuch“.  Unter diesem Titel bittet sie ihre Schauspieler:innen zum Gespräch in die Räumlichkeiten der Maske. „Im Hintergrund liegen wechselnde Requisiten, die Interviewerin ist nur im Spiegel zu sehen, räumlich wahrt sie Distanz. Inhaltlich nicht. Die Chefin fragt, das Ensemble erzählt. Und bisweilen erzählt die Chefin auch selbst. Tiefgründiges, Privates, das Format hat zugleich etwas Voyeuristisches wie ungemein Tröstliches. (9)

Und Shermin Langhoff, die das Maxim Gorki Theater in Berlin leitet, ist zuversichtlich, die Krise zu meistern: „Das Theater ist widerständig. Es hat Pest und Cholera genauso wie die Spanische Grippe überlebt, und es hat diese Epidemien nicht nur durch Shakespeare zu seinem Gegenstand gemacht“. (10) Das ist wohl richtig. Während der spanischen Grippe 1918/19 waren in Deutschland die Theater monatelang geschlossen, erlebten danach eine unglaubliche Blüte in den Zwanziger- und Dreißigerjahren. Diese Situation ist aber mit der von heute kaum vergleichbar. Theater war ein, wenn nicht sogar das gesellschaftliche(s) Leitmedium des damaligen Zeitgefühls. Der Tonfilm befand sich in Anfängen. Es gab noch kein Fernsehen, keine digitalen (sozialen) Medien.

Theater go online

Viele Theater lösen die Zwangspause, indem sie nun Livestreams einsetzen. Einige zeigen ganze Inszenierungen, andere kleine Formate, etwa Lesungen oder kurze Interviews. Kann das annähernd das Theatererlebnis ersetzen? Nunes ist darüber fast wütend. „…  keine gute Idee, das Internet jetzt mit irgendwelchen Aufzeichnungen vollzumüllen. Das heißt Theater ausziehen, und es sieht nicht gut dabei aus. Theater braucht Exklusivität. Es ist auf Anwesenheit gebaut. Dass man den Weg dahin macht und sich dann fragt, was das Ganze soll und dann endlich offen für Überraschung ist. Es ist der absolute Widerspruch.“ (11)

Die Leitung des Berliner Theatertreffens hat darüber eine Grundsatzdebatte angezettelt unter der Überschrift „Stoppt das Streaming!“ Und fragt: „Muss Theater gerade in Zeiten der Krise stattfinden oder wäre es klüger, der Lücke erst einmal Raum zu geben? Was bedeutet der aktuelle Hype rund um Theater im (Live-)Stream für die Zukunft? Schaffen wir durch die aktuelle Debatte Anstöße über die Krise hinaus oder kehren wir danach „endlich wieder zum richtigen Theater“ zurück? Welche künstlerischen Formate gab es vor und welche gibt es erst seit Beginn der Corona-Krise?“ (12)

Wie kann/soll die Wiedereröffnung aussehen?

Wie soll es nun weitergehen? Die neuen vorgeschriebenen Abstandsregelungen müssten ja auch für Schauspieler auf der Bühne gelten. Sämtliche Inszenierungen sind auf dem Prüfstand. Oliver Reese, Intendant des Berliner Ensembles, entwirft wie viele andere gerade Szenarien für die kommende Saison: „Wir bereiten uns darauf vor, ab September wieder zu spielen, mit einem Saalplan, der die Hygienevorschriften einhält. Was konkret bedeuten würde, „dass in einem 700-Plätze-Theater nur noch 200 Zuschauer sitzen. Jede zweite Reihe bliebe also leer. Immerhin: Zusammenlebende Paare dürften, wie im Kino, Pärchensitze buchen. Es bräuchte Regelungen für den Einlass, womöglich müssten die Zuschauer auch Alltagsmasken tragen. Unter denen man allerdings, wie auch Reese zu bedenken gibt, nicht sonderlich gut Luft bekommt. Was bei einer dreistündigen Aufführung schon strapaziös werden könnte. Dazu kommt, dass die vorgeschriebenen Abstandsregelungen natürlich auch für Schauspieler auf der Bühne gelten müssten. Wir lassen im Moment sämtliche Inszenierungen, die wir wieder aufnehmen wollen, von unseren Regie-Assistenten auf problematische Stellen prüfen, erzählt der Intendant. Freilich wäre so ein Corona-Theater nicht für alle gleichermaßen umsetzbar. Was am Grips das eigentliche Theatererlebnis ist, nämlich unmittelbar am Bühnengeschehen dran zu sein, das würde man damit ausbremsen, gibt Philipp Harpain zu bedenken, der Leiter des Kinder- und Jugendtheaters am Hansaplatz.“ (13)

Selbst wenn sich die hygienische Logistik stemmen ließe (Putzkommandos vor und nach der Vorstellung, Wegwerf-Masken en masse, Handgel gallonenweise) – wer könnte am Ende des Tages garantieren, „dass die Theater nicht zu Super-Spread-Events werden?“, so der Intendant der Schaubühne Berlin Thomas Ostermeier. „Die Zuschauer stehen anderthalb Stunden für den Einlass an, dürfen im Foyer nur Distanzgespräche mit Bekannten führen und können sich kein Getränk kaufen. Weder im Saal noch auf der Bühne kommt Stimmung auf. Und nachdem ein lauer Applaus über die armen Schauspieler getröpfelt ist, gehen alle wieder nach Hause. Das ist kein Beitrag zur Normalisierung, sagt Ostermeier. Das ist ein Beitrag dazu, die Leute spüren zu lassen, dass wir in furchtbaren Zeiten leben. Selten traf der alte Brecht-Satz mehr zu: der Vorhang zu und alle Fragen offen.“ (14)

Und trotzdem werden diese Pläne im Moment in allen Theatern durchgespielt: Wie der Einlass grüppchenweise zu regeln wäre, wie Pausen verlängert werden müssten, um den Toilettenbesuch für alle zu organisieren. Und dann bliebe immer noch die Frage: Kommen die Schulen überhaupt?

Lehren?!

„Nach der Pandemie wird nichts mehr so sein wie vorher.“ So legen es die meisten Stimmen in den Debatten nahe. Ich wage mit Dirk Luckow eine positive Prognose: „Die Pandemie hätte etwas Positives, wenn dadurch die eigenen Verhaltensweisen überdacht werden würden. Dabei sind die zukünftigen Auswirkungen des Coronavirus weiterhin vollkommen unklar. Auf diese fast surreale und zugleich sehr reale Gefahr jenseits unserer alltäglichen Wahrnehmung werden wir uns weiter einzustellen haben. Im besten Fall wird das Ganze dazu beitragen, unsere Gewohnheiten umzudenken, etwas zu ändern, was sich im Umweltsinne sowieso ändern muss.“ (15)

Mein Fazit: Es ist sicherlich eine schwierige Zeit für die Theater angebrochen – jenseits der Diskussion über die Umsetzung adäquater Hygiene- und Abstandskonzepte und jenseits der berechtigten Existenzsorgen bin ich der Meinung, dass die Theater die Krise nutzen sollten sich zu fragen, was sie daraus an Konsequenzen für ihre Zukunft (denn ein borniertes „Weiter So“ ist kaum denkbar) zu ziehen gedenken, welches Publikum sie erreichen wollen, mit welchen Formaten, Themen, Ästhetiken. „Viel offener, viel roher und fragmentarisierter?“ wie Joachim Lux fragt, auch dringender, provokativer, weniger aufwändig und perfekt? Das würde den Interessen und Bedürfnissen der Jugendlichen sehr entgegenkommen. Und man darf gespannt sein, welche Antworten die Theater auf das nun drängend gewordene Thema Theater und Digitalität finden, falls sie sich überhaupt schon intensiver damit beschäftigt haben und sich nicht nur in einer Abwehrhaltung befinden. Davon – von der analogen Kunst des Theaters im digitalen Zeitalter – wird in einem der nächsten Newsletter die Rede sein.

Quellenangaben:

(1) Thomas Oberender / Yvonne Büdenhofer: Ein Pilotmedium in Zeiten des Umbruchs. Vorwort zum Berliner Theatertreffen 2020, https://www.berlinerfestspiele.de/media/2020/theatertreffen-2020/downloads_tt_2020/tt20_magazin.pdf

(2) https://www.sueddeutsche.de/kultur/corona-andere-bedeutung-1.4853423

(3) Dirk Luckow, Deichtorhallen-Intendant. Zitiert nach Vera Fengler: Museen öffnen, um Menschen aus kultureller Isolation zu befreien. In: Hamburger Abendblatt vom 29. April 2020.

(4) Heiner Fangerau und Alfons Labisch, zitiert aus ihrem neuen Buch „Pest und Corona“. In: stern online. 4. Mai 2020.

(5) Ulrich Khuon, zitiert nach https://www.facebook.com/174366822608716/photos/theater-ist-wahrscheinlich-die-sozialste-aller-kunstformenerfahrungsfeld-theater/3188722894506412/

(6) Annette Stiekele im Gespräch mit Antú Romero Nunes. Hamburger Abendblatt vom 28./29. März 2020, S. 25.

(7) Kampnagel-Newsletter Ende April 2020.

(8) Hamburger Abendblatt vom 25./26. April 2020. Maike Schiller im Gespräch mit Joachim Lux: Hier muss Luft rein für die Sehnsucht, S. 25.

(9) Maike Schiller: Karin Beier will proben – mit Schwimmnudeln. In: Hamburger Abendblatt vom 30.4./1.5.2020, S. 19.

(10) Shermin Langhoff (Allgemeine Sonntagszeitung vom 9. April 2020

(11) s. Fußnote 6.

(12) Das Gespräch kann man auf vimeo.com unter https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/programm/on-demand/tt-virtuell.html hören.

(13) Patrick Wildermann: Abstandsregeln auf der Bühne. In: Tagesspiegel vom 17.4.2020.

(14) Patrick Wildermann: Mindestabstands-Shakespeare mit Spuckvisier. Tagesspiegel vom 28. April 2020, S. 19.

(15) Dirk Luckow, Deichtorhallen-Intendant. Zitiert nach Vera Fengler: Museen öffnen, um Menschen aus kultureller Isolation zu befreien. In: Hamburger Abendblatt vom 29. 4.2020.