Der nachfolgende Text von Michael Müller ist im Kontext des Festivals Schultheater der Länder 2014 in Saarbrücken erschienen. Das Thema hieß “Grenzgänge”. Das Treffen wollte die Bedeutung von Grenzgängen im Theaterunterricht untersuchen. Jugendliche sind erfahrene Grenzgänger, sie nehmen Begrenzungen sensibel wahr, sowohl als Einschränkung als auch als Orientierungshilfe. Sie wissen, dass Grenzüberschreitungen lustvolle Erfahrungen sein können, die zwar Risiken bergen, sich aber oft lohnen. Damit sind sie grundsätzlich hervorragend aufgestellt für das Spektrum des Theaters bzgl. Grenzgänge. Anders verhält es sich mit ihren Erfahrungen bzgl. Gestaltungsformen und Traditionen des Theaters. Da betreten sie vielfach Neuland. Das Festival formulierte Fragen wie: Sollen Schüler im Theaterunterricht überhaupt zu ihren individuellen Grenzen geleitet werden, um Erfahrungen einer Grenzüberschreitung zu machen? Wie lassen sich solche Grenzen durch Lehrer wie Schüler identifizieren? Oder werden Grenzen erst dadurch erfahrbar, dass man sie – auch ästhetisch – überschreitet?
Michael Müller hat das Festival kritisch begleitet und in einem Essay die Aufführung aus Niedersachsen, die Jean Anouihls Stück “ Jeanne oder die Lerche” adaptierte, zum Ausgangspunkt seiner Betrachtung gemacht. Die Fragen und Antworten des fiktiven Interviews aus dem Jahre 2064 nehmen fast prophetisch vorweg, was uns heute angesichts der Covid-19-Pandemie beschäftigt, nämlich: Wie geht das Theater mit der Tatsache um, wenn das gemeinschaftliche Erlebnis zwischen Schauspielern und Zuschauern wegfällt?
Der Autor hat die ursprüngliche Fassung (Grenzgänge: Fokus Schultheater. Zeitschrift für Theater und ästhetische Bildung. Hrsgg. vom Bundesverband Theater in Schulen. Heft Nr. 14. Friedrich Verlag 2015) für diesen Newsletter gekürzt.
Jean of Arc had a Heart but she gave it as a Gift.
Ein Interview mit „Jeanne D.“, Gründungsfrau von „Rampage Now“ im Januar 2064
von Michael Müller
Jeanne D., gerade haben wir Sie noch in der Raffael-Art-Landscape leben sehen. Sehr erschöpft?
Sechsunddreißig Stunden ohne technical support in der Eigenhülle sind sehr kräfteraubend, aber ich fühle mich gerade noch, als wenn ich schwebe, grenzenlos schwebe.
Darf man eigentlich den Begriff des grenzenlosen Theaters heute noch verwenden?
Sie dürfen jeden Begriff aus der Vergangenheit verwenden. Nur in unserer Welt gibt es eben kein „Theater“ mehr. Wir haben es vor zwanzig Jahren abgeschafft. Wir haben irgendwann begriffen, dass die Grenzen, die das Medium Theater sich und uns setzt, nicht zu überwinden sind. Das Theater war gescheitert. Auf allen Ebenen gescheitert. Ein schwacher Schrei auf der Bühne, ein abruptes Ende der dramatischen Einfälle. Die Grenzen zwischen unserem Leben und den Kunstformen haben wir danach als nicht vorhanden erklärt. Gut, das war ein Prozess, das letzte Theater hat sich selbst ja erst 2041 geschlossen. Niemand wollte mehr eine verfälschte Person spielen. Grenzen, überall Grenzen des Spiels, der Disziplin, der Methode, der Regie. Ein Armbrustschießen direkt in die Zukunft meiner Bewegung. Heute sind diese Grenzen überwunden. Heute sind wir im Theater nur wir selbst. Wir sind grenzenlos frei.
Wo lagen rückblickend die tiefgehenden Veränderungen, die stattgefunden haben? Das Theater schafft sich doch nicht so einfach freiwillig ab!
Ich sprach auch nicht von einfachen Prozessen. Sie müssen mir schon genau zuhören. Die Tatsache, dass sich die Welt der Gegenstände immer mehr entmaterialisierte, alles, wirklich alles für uns virtuell wurde, fand einen logisch nachvollziehbaren und sinnlich erfahrbaren Niederschlag in der Kunst. Materie, also wir selbst als Biomasse und auch die begreifbaren Dinge sind natürlich weiterhin vorhanden gewesen, aber sie lagen brach, sie wurden entmaterialisiert. Das „Theater“ als traditionelle Plattform dramatischer Handlungen trat folgerichtig zurück und machte Platz für unseren Lebensraum, den Ort, die Umgebung künstlerischer Ereignisse. … Denn wo existierte er noch, der einzigartige Ort der Begegnung, wenn nicht in unserer direkten zwischenmenschlichen Kommunikation. Sie fand ja kaum noch statt, da wir unsere Wohlarien, also Wohnungen, ja eigentlich nicht mehr verlassen mussten, zumal die zweite Virusphase es auch für uns außerordentlich gefährlich machte. Die sinnliche Begegnung von Menschen ohne technische Zusätze und Verfremdungen bekam eine neue Qualität. Sie wurde zu unserem Theater.
Wie fühlte sich das an, Menschen in natürlichen Räumen zu treffen und mit ihnen, ich darf doch sagen, antitheatral zu handeln?
Der Zuschauer, wurde als aktiver authentischer Spielpartner wahrgenommen und in die künstlerischen Ereignisse einbezogen. Erst durch seine Teilnahme, durch sein aktives Mittun konnten sich plötzlich die Qualitäten von jedem Einzelnen von uns innerhalb der Ereignisse entfalten. So wurde das, was von den Künstlern früher mit ihren Stücken „verpackt“ und „versteckt“ war, – wir nannten diesen Zustand „hidden lie“ – vom „extrem flow“, also dem lebenden, mitdenkenden und mithandelnden Publikum, „entpackt“ und zu einem Ereignis. Der Prozess gestaltete sich also immer als ein Akt von allen Beteiligten. Wir arbeiteten daran, jeden zum Wachsen zu bringen und seine Stärken zu betonen. Im Zeichen unserer Philosophie waren „Erlebnis“ und „Ereignis“ immer eins. Jegliche Grenzen wurden überschritten. Manchmal auch die der Moral, so dass wir einige wenige Codewörter zur Beendigung der Spielstiftung einführen mussten.
Wie sah also ihre Theaterform im Vergleich zu früher aus?
Da sprachen Leute miteinander, einfach so, und im Laufe des Tuns zog man Schlüsse, was sie miteinander zu tun hatten, in welchem Verhältnis sie miteinander standen und wo das Ereignis ihrer Gedanken stattfand. Es fehlten Erklärungen, Gebrauchsanweisungen und Regeln. Die Leute waren einfach da, in ihrem Raum, der ihnen nicht einfach als Kulisse oder Guckkasten hingestellt wurde. Es war ihr zufälliger oder auch verabredeter Raum, ein Raum, der bewusst außerhalb der virtuellen Welt gewählt wurde, eine natürliche Bühne wie eine Landschaft, die sich nicht verändert. Ich spreche hier tatsächlich von den Räumen, die wir nicht beeinflussen, die wir nicht an unseren Homeboards stetig verändern können. Ich spreche von Räumen, in denen jeder technische Support verboten ist. Wir diskutierten nächtelang, ohne zu merken, dass wir bereits mitten im Theater-Prozess waren. Das Wichtigste schien uns die Frage, wie komme ich in meine gelebte Situation hinein und wer begleitet mich dabei Grenzen zu überschreiten. Wer erzählt, wer begleitet, wer ist Akteur, wer Zuschauer, das ist bis heute der Moment der Unsicherheit und der Spannung. Wer ist aktiv, wer ist passiv? Es gab damals noch keine richtige Sprache dafür und provisorische oder leicht zu besetzenden Spontanorte.
Grenzgänger! Alexander Kluge hat das mal sehr gut ausgedrückt: „Sobald man ein Wort immer näher anschaut, blickt es immer ferner zurück.“
Das stimmt. Sehr schön! Ich merke gerade es ist auch schön, wenn Erzählungen kompliziert werden und Wirklichkeit neu entsteht, so wie jetzt gerade. Denken Sie an einen Menschen, der einen Theatersaal verlässt und übertrieben jubelt und enthusiastisch reagiert. Ist das Wirklichkeit? Nein, aber wir beide sind es. Was für ein schönes Lebensstück sind wir beide bis jetzt.
Kennen Sie die Arbeit der Ritualforscher Klaus-Peter Köpping und Ursula Rao Anfang 2000 mit ihren transformativen Tanz- und Musikakten? Diese sehen ebenfalls nicht die Kommunikation von Bedeutungen als wesentliches Element im Ritual; vielmehr die spirituelle Hingabe an das rituelle Geschehen.
Da bringen Sie mich auf einen Gedanken. Vielleicht müssen wir noch weiter zurück! Zurück in die Zeit, als es keine klaren Grenzen zwischen Theater und Ritual gab, wo die Rituale von den Beteiligten und ihre Wirklichkeitswahrnehmung in alle Zustände unseres Seins transformiert werden konnten.
So was wie „Erleuchtung?“
Wenn Sie das so nennen wollen! Ja! Erleuchtung! Danke für unser Lebensgespräch! Können wir unsere Eigenhüllen auflösen? Es wird Zeit, sie abzulegen. Ich schwitze mich halbtot.