Aufgelesen

„Während die einen den Impfstoff suchen und andere diskutieren, ob das gut ist, stellen wir im Theater einen Impfstoff gegen Verhärtungen und Verspinnungen im Kopf bereit.“  (Nicolas Stemann, Regisseur und Leiter des Theaters Basel, mehrfach mit Inszenierungen auf Kampnagel und im Thalia Theater vertreten)

Foto: Gunter Mieruch

Kommentierung zur Schließung der gesamten Kulturbranche 

Mit kaum etwas anderem hätte die Bundeskanzlerin die gesamte Kulturbranche bei der nunmehr zweiten pandemiebedingten Schließung tiefer ins Mark treffen können als mit der pauschalen Rede von „Veranstaltungen, die der Unterhaltung dienen». Wie tief, das zeigen seither die entrüsteten Reaktionen besonders aus der Hochkultur, aus den Theatern, Opern, Konzerthäusern. Corona hat dazu geführt, dass der Diskurs über die Relevanz der Kultur, Künste und Kulturellen Bildung in Demokratien wieder Fahrt aufgenommen hat. Und nicht nur die Frage hinsichtlich ihrer Systemrelevanz sondern auch, inwieweit wir die Künste neu bzw. anders zukünftig denken und gestalten müssen.

Zu dem zweiten Lockdown zitieren wir hier auszugsweise einen sehr lesenswerten Artikel des Autors Christian Wildhagen unter der Überschrift „Ausgeknipst: Sobald es ernst wird, wird die Kultur zum Schweigen gebracht. Wer das tut, missachtet Sinn und Wert von Kultur. Warum kündigt die Politik im Kampf gegen die Pandemie einen Grundkonsens in der Gesellschaft auf?“, erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung vom 31.10.2020:

„Die Kulturschaffenden in der Schweiz und in Deutschland haben jetzt Klarheit: In den Augen der Regierenden in Bern und Berlin kann die Gesellschaft auf ihre Leistungen verzichten. Einfach so, von heute auf morgen und zumindest in der Schweiz auf unbestimmte Zeit. Denn mit den am vergangenen Mittwoch in beiden Ländern verkündeten Einschränkungen für Veranstalter, Theater, Opern- und Konzerthäuser ist ein aktives Kulturleben bis auf weiteres bloss noch in äusserst bescheidenem Rahmen, bei etlichen grösseren Institutionen gar nicht mehr möglich. In Staaten wie Italien und Frankreich, die noch strengere Massnahmen bis hin zu Ausgangssperren erlassen haben, liegt das Kulturleben bereits am Boden.

Man muss einen Augenblick die Maske absetzen und tief durchatmen, um die Tragweite des Einschnitts zu ermessen, den dieser «Kulturbruch» im Wortsinne für den politischen und gesellschaftlichen Diskurs in einem freiheitlich verfassten Land bedeutet. {…}

Das Signal, das der Staat mit dieser Massnahme aussendet, ist fatal. Er reduziert die in vielen Bereichen immerhin von ihm selbst massgeblich geförderte Kultur auf die Rolle eines Dienstleisters, den man beliebig herbeirufen oder abbestellen kann – wie einst die zu Speis und Trank kredenzte Tafelmusik bei Hofe. Das erscheint nicht nur anachronistisch und willkürlich, es verrät auch einen erschreckend schlichten, tendenziell rein utilitaristischen Kulturbegriff: Solange die Kultur der Erbauung und im Idealfall auch der Wertschöpfung dient, darf sie spielen; sobald es ernst wird, wird sie zum Schweigen gebracht. {…}

Viele staatlich geförderte Institutionen mögen sich vorerst noch auf die zugesagten Mittel sowie die in der Schweiz und in Deutschland vergleichsweise grosszügigen Modelle der Kurzarbeit stützen. Wenn es ans unvermeidliche grosse Sparen nach der Krise geht, werden freilich die öffentlichen Gelder – jeder Intendant kennt das aus klammen Zeiten – mit als Erstes zur Disposition stehen.

Weit schlimmer trifft es schon jetzt freiberufliche Künstler und private Veranstalter, die sich vorwiegend durch die Einnahmen aus dem Kartenverkauf refinanzieren, unterstützt allenfalls durch individuelle Vereinbarungen mit Sponsoren oder Werbekunden. Ihnen ist auf einen Schlag die Geschäftsgrundlage entzogen. Der Ärger über den absehbaren Aderlass im kulturellen Leben ist nicht zuletzt deshalb so gross, weil die Entscheidungen bar jeder wissenschaftlichen Grundlage und ohne Rücksicht auf die Faktenlage erfolgt sind. Bis heute wurde nämlich weder in der Schweiz noch in Deutschland ein belastbarer Nachweis erbracht, dass es im Rahmen einer Live-Kulturveranstaltung unter den bis dahin geltenden Auflagen überhaupt zu Ansteckungen in nennenswerter Anzahl gekommen wäre. {…}

Dass es nun dennoch dazu {zum Aus für den gesamten Spielbetrieb} kommt, hat einen anderen Grund. Allerdings ist es keineswegs die nur noch mangelhaft funktionierende Kontaktrückverfolgung, wie die deutsche Bundeskanzlerin insinuierte. Dieses scheinbar rationale Argument, mit dem man künftig übrigens alles und jedes rechtfertigen könnte, ist eine Nebelkerze. Sie verschleiert den peinlichen Umstand, dass die gesamte Live-Kultur zum Bauernopfer einer Symbolpolitik geworden ist, die nahezu alles, was nicht unmittelbar dem Broterwerb, der Lebenshaltung oder der schulischen Bildung dient, unterschiedslos als «entbehrlich» deklariert. Ob dies um der breiteren Akzeptanz willen geschah, aus fehlender Einsicht oder blindem Aktionismus, bleibe dahingestellt. {…}

Denn da blitzt es wieder durch, das Bild von der Kultur als Tafelmusik, die als entbehrliche Dreingabe lediglich die Nahrungsaufnahme versüssen darf. Dabei ist Kultur selbst jenes Grundnahrungsmittel, dessen Produktion und genussreicher Verzehr die Spezies Mensch von allen anderen unterscheidet. Die Wiedergabe einer Beethoven-Sinfonie, die Aufführung eines Theaterstücks oder die gemeinsam im Kino erlebte Vorführung eines Films kann auch sehr wohl völlig unbefangen als «Unterhaltung» rezipiert werden: gerade in Krisenzeiten, wo geistiger Input, ja blosse Ablenkung helfen, den Lebensmut auch vor düsterem Horizont nicht zu verlieren. Im Ernstfall ist die Rolle der Kultur die jener legendären Kapelle an Bord der «Titanic», die tapfer bis zum Untergang des Dampfers weiterspielte, um eine Panik zu verhindern.“

Weitere interessante und teils provokative Beiträge zum Diskurs der Situation des Theaters in Pandemiezeiten sind in www.nachkritik.de veröffentlicht, u.a. : 

Sarah Waterfeld: Von der Systemrelevanz der Kunst   – Wash your dirty hands

https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=18798:essay-von-sarah-waterfeld-von-der-systemrelevanz-der-kunst&catid=101&Itemid=84

Karin E. Yeşilada: Die Krise als Chance oder Tütensuppe – Lernen aus dem Lockdown? – Eine Publikation des Impulse Theater Festivals beschreibt die Situation freier Theater und Künstler*innen in der Corona-Krise

https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=18842:lernen-aus-dem-lockdown-eine-publikation-des-impulse-theater-festivals-beschreibt-die-situation-freier-theater-und-kuenstler-innen-in-der-corona-krise&catid=897&Itemid=100190

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Zahlreiche Hamburger Kulturschaffende haben sich mit einem Offenen Brief, der im Hamburger Abendblatt am 20. November 2020 abgedruckt wurde, an Bürgermeister Tschentscher gewandt. Zu einem Zeitpunkt, bevor der Light-Lockdown vom 2. November nochmals verschärft wurde. Kultureinrichtungen werden nun im Gegensatz zu den ersten Maßnahmen im Herbst zwar nicht mehr mit Einrichtungen für Freizeitgestaltung gleichgesetzt, bleiben aber vorerst bis zum 10. Januar 2021 geschlossen. Es liegt der Redaktion leider keine Antwort des Bürgermeisters vor.

Corona-Brandbrief der Hamburger Kultur im Wortlaut

Sehr geehrter Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, sehr geehrter Peter Tschentscher, lassen Sie die Kultur leben!

Auch wir, Kulturschaffende in Hamburg, sind uns bewusst, dass einschneidende und schmerzhafte Maßnahmen nötig sind, um die steigenden Infektionszahlen in der Pandemie zu reduzieren. Es ist keine Frage, dass die zweite Corona-Welle in diesen Wochen solche Maßnahmen verlangt.

Während des ersten Lockdowns haben wir unsere Kultur-Häuser geradezu zu „Hochsicherheits-Zentren“ umgebaut, haben Geld, Zeit und Energie eingesetzt, um den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt auch in dieser Krisenzeit gefahrlos Kulturerlebnisse zu ermöglichen.

Obwohl es keine Zweifel an der Sicherheit eines Theater-, Konzert-, Opern-, Kino- oder Museumsbesuches gab und gibt, wie selbst der Hamburger Kultursenator uns noch kurz vorher bestätigt hat, wurden wir gemeinsam mit Freizeiteinrichtungen unterschiedlichster Art am 2. November erneut in den Lockdown geschickt. Die Zuordnung zu „Freizeiteinrichtungen“ hat verständlicherweise tiefgreifende Verstimmungen in der Kulturszene ausgelöst. Wir fühlten uns hier sehr grundsätzlich missverstanden.

Darüber hinaus: Wenn Kunst, Kultur und Bildung dort verortet werden, so die Befürchtung, werden wir nicht nur als Erste wieder geschlossen, sondern auch als Letzte und nach allen anderen wieder geöffnet. Dies würde insbesondere die freie Kultur trotz staatlicher Hilfsangebote – und wir haben nicht vergessen, wie sich gerade die Hamburger Behörde Kultur und Medien für die Kultur ihrer Stadt eingesetzt hat – endgültig in den wirtschaftlichen Ruin treiben.

Wir sind sehr froh, dass im soeben vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Infektionsschutzgesetz Kultureinrichtungen als Orte von Kunst, Kultur und Bildung endlich eigenständig betrachtet werden. Explizit gestärkt wird dort der Rang der Kultur durch den Verweis auf die im Grundgesetz verankerten Grundrechte, hier insbesondere den Artikel 5 Absatz 3 zur Freiheit der Kunst. Grundrechte unterliegen wie das Recht der Versammlungsfreiheit, der Religionsausübung oder der Meinungsäußerung einem besonderen Schutz. Ihre Aufhebung braucht also – ebenso wie das nicht infrage gestellte Recht der freien Religionsausübung – eine besondere Begründung.

Das ist ein großer und längst überfälliger Schritt! Notwendig ist es nun, diese substanzielle Veränderung auch öffentlich zu machen, denn dieser Schritt darf nicht folgenlos bleiben: Wir bitten Sie, sich dafür einzusetzen, dass der vom Gesetzgeber selbst formulierte Rang von Kunst, Kultur und Bildung bei den unmittelbar bevorstehenden politischen Beschlüssen tatsächlich Berücksichtigung findet.

Im Sinne von transparenten und gerechten Kriterien kann es nicht sein, dass der Erwerb nicht unmittelbar notwendiger Konsumartikel in Kaufhäusern höher gewichtet wird als die Versorgung mit Bildung, Kunst und Kultur. Der Hinweis, ein Besuch von Kultureinrichtungen möge zwar sicher sein, der Weg dorthin mit öffentlichen Verkehrsmitteln sei es aber nicht, dürfte angesichts der neuen Gesetzeslage künftig nicht mehr ausreichen.

Auch in Krisenzeiten ist ein Mindestmaß an sozialem, kulturellem und gesellschaftlichem Leben unverzichtbar. Wir wollen für die Gesellschaft, für unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in Hamburg gerade in dieser schwierigen Zeit da sein. Genauso, wie Sie das Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften auch zugestehen. Auch wir wollen Freude, Zuversicht und Trost spenden. Wir wollen dem „weniger Kontakt“ ein „mehr Zuwendung“ an die Seite stellen. Kultur stabilisiert die Gemeinschaft und stärkt den Einzelnen.

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Tschentscher, wir bitten Sie nachdrücklich: Setzen Sie sich beim nächsten Treffen mit der Kanzlerin und Ihren Kolleginnen und Kollegen der anderen Länder dafür ein, dass Kultur- und Bildungseinrichtungen wie Opern, Theater, Konzertsäle, Kinos und Museen zügig wieder geöffnet werden. Nehmen wir alle gemeinsam unsere gesamtgesellschaftliche Verantwortung ernst!“

Es haben unterzeichnet:

Musik:

  • Thomas Hengelbrock, Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble
  • Alan Gilbert, NDR Elbphilharmonie Orchester
  • Kent Nagano, Staatsoper
  • Ensemble Resonanz
  • Christoph Lieben-Seutter, Elbphilharmonie und Laeiszhalle

Theater: 

  • Joachim Lux, Thalia Theater
  • Karin Beier, Deutsches Schauspielhaus
  • Ulrich Waller / Thomas Collien, St. Pauli Theater
  • Amelie Deuflhard, Kampnagel

Museum: 

  • Alexander Klar, Hamburger Kunsthalle
  • Tulga Beyerle / Udo Goerke, Museum für Kunst und Gewerbe
  • Dirk Luckow, Deichtorhallen

Kunstverein Hamburg:

  • Bettina Steinbrügge

Film / Kino:

  • Albert Wiederspiel, Filmfest Hamburg