von Michael Alexander Müller
Es ist längst nachgewiesen, wie künstlerisches und kulturelles Denken und Handeln prägen können. Der Philosoph und Publizist Richard David Precht bezeichnet Schulen als „Lernfabriken, die Kreativität töten“. Er behauptet sogar (hier verkürzt formuliert), der Staat und die Industrie wollten „keine selbstdenkenden Wesen, sondern stille Befehlsentgegennehmer. Eben Ohnmächtige!“ Folgt man seinen Überlegungen, müssen wir uns in Zukunft noch stärker von der klassischen Schule verabschieden und viel mehr in Projekten, individualisierten Lern- und Selbstlernprozessen arbeiten und den Lernbefohlenen Anleitungen zur Reifung eines politischen, sozialen und selbstdenkenden Wesens geben.
Statt Mauern stehen Spiegel um mich her.
Mein Blick sucht mein Gesicht.
Das Glas bleibt leer.
(Heiner Müller)
Schauen wir in die Schulrealität, so ist es für die große Mehrzahl der Schüler:innen offenbar immer noch das Leichteste, dass sie sich anpassen, dass sie ihre Ansprüche auf ihr eigenes erreichbares und überschaubares Glück reduzieren. Robert Jungk schlug schon mit der Ursuppe der Pädagogikreformen, durchdekliniert in vielen Lehrer:innen-Seminaren, eine neue Dreiheit des Denkens und Handelns vor: Partizipation, Phantasie und Perspektive. Jungk forderte überall Zukunftswerkstätten als Gegenentwurf zu staatlichen Institutionen (implizit wohl auch Schulen) und zur Ermächtigung des Einzelnen. Je mehr man Menschen außerhalb von Behörden, Parteien, sie in Räten, Kulturorganisationen, Foren, Selbsthilfegruppen, Medien, Stadtplanungsstäben, unabhängigen Gewerkschaften oder Betriebsgruppen einbezieht, desto mehr löst sich der Einzelne aus seinem Ohnmachtsgefühl und kehrt zurück zu einer Selbstwirksamkeit als Teil der Gesellschaft und seiner selbst.
Vor allem Kunstschaffende aller Sparten sah er „als ewige Revolutionäre“, als Seismografen und Wegbereiter des Kommenden, die vielfach wacher und sensibler für das Denkbare und Wünschenswerte Spuren in die Zukunft legen könnten, aber auch als Mahner und Warner eine wichtige Funktion erfüllten. Zugleich aber war Robert Jungk davon überzeugt, dass das vor allem bei Kindern und Jugendlichen vielfach noch erkenn- und greifbare kreative Potenzial in jedem Erwachsenen noch vorhanden ist und nur darauf wartet, geweckt zu werden. Jeder Mensch ist in bestimmten Phasen seines Lebens von politischen Ereignissen geprägt und beeinflusst, die in sein Privates eindringen und verändern, manchmal bis in seine tiefsten Wurzeln hinein. Wie Konrad Peter Grossmann schon feststellte: „Menschliches Leben impliziert immer zunächst Selbstreflexion – den Blick auf sich selbst zurück, das Gewahr werden, das ich tue, was ich tue, denke, was ich denke, erlebe, was ich erlebe.“
(Theater-)Lehrer:innen sind überzeugend, wenn sie zeigen, wofür sie brennen und wo sie verletzbar sind. Schüler:innen spüren es, wenn Lehrkräfte eine menschliche Begegnung zulassen können. Sie brauchen diese Begegnungen. Aber selbst wenn man brennt und bei den Schüler:innen nicht nur auf Ohnmacht, sondern auf Desinteresse stößt? Warum sollte ich als Spielleiter:in überhaupt davon ausgehe, dass sich Schüler:innen für Protest und politische Bewegungen interessieren? Wie kann ich mein Thema auch zu ihrem Thema machen? Wie schaffe ich Erkenntnis, ohne meine bereits gefestigte Meinung manipulativ einzusetzen und ohne Anweisungen zu Moral und zur „korrekten politischen Haltung“ zu geben?
Dabei sollte folgender Befund in die didaktischen Überlegungen mit einfließen: Die moderne Welt setzt offenbar bei den Jugendlichen (und nicht nur dort) bei aller Entfaltungs- und Informationsfreiheit nicht Selbstwert und Wissen sondern Gefühle frei, vor allem eine diffuse Wehr- und Machtlosigkeit gegenüber unbeeinflussbaren Faktoren, die wir glauben nicht steuern und durchschauen zu können. All das Undurchschaubare, Unsichere macht zunehmend Angst und Angst ist ein gut zu manipulierendes Gut.
Festzuhalten ist, dass der Halt suchende Jugendliche oft auf sich selbst gestellt ist und sich leichter an Vorbildern orientiert, die einleuchtende und prägnante Erklärungsmodelle liefern. Dies ist zwar nachvollziehbar, birgt aber nicht selten aufgrund ihrer Vereinfachung große Gefahren in sich. Jugendliche glauben, es gebe statt der komplexen Welt eine Wahrheit, die viel einfacher sei. Sie finden sie vor allem an den extremen Rändern unserer Gesellschaft, da diese ihre Werte offenbar immer weniger überzeugend übermitteln kann. Und Jugendliche finden die Netzwerke der Radikalen zunehmend und ungesteuert im Internet. Wo lässt sich Angst besser schüren als im Internet?
Dabei könnte man durchaus Themen setzen, die jungen Leuten wichtig sind. Damit Menschen zuhören, muss ihr Interesse für sie betreffende Inhalte zunächst einmal geweckt werden. Der politisch Handelnde muss also für seine Themen Empathie erzeugen und das durch gute Geschichten, die vor allem auch durch Theater und die Theaterarbeit an den Schulen erzählt werden.
Spieleiter:innen müssen ein Laboratorium schaffen, in dem die Schüler:innen die Gelegenheit zur Reflexion erhalten. Und sich dabei folgende Fragen stellen: Welche Gruppenstruktur finden sie vor, wie entsteht Motivation, wie geht man mit schwierigen Kommunikationssituationen um? In welchen Rollen erforscht man das zu behandelnde Thema, wie schält sich ein politisches „Subjekt“ heraus?
Die Leiter:innen müssen mit den Spieler*innen gemeinsam herausfinden, in welcher Welt sich Schüler:innen wohlfühlen und wo sie „mit sich selber“ unterwegs sind – gerade auch beim Theaterspielen. Sie müssen nicht ständig einer Meinung sein, denn es bewegt sich etwas gerade in den Momenten der Verunsicherung. Auch die Inkorrektheit der Arbeit mündet in eine Reflexion auf der Bühne. Es gilt vielfältige Erfahrungen zu schaffen und die Jugendlichen mit ihrem Denken zu konfrontieren.
Die Jugendlichen wissen eigentlich im Schulalltag oft intuitiv, wie sie was zuordnen müssen, wie sie für sich einstehen und wann sie in einen Dialog oder Streit gehen. Aber was macht sie in der gesellschaftspolitischen Realität so unfähig dazu? Die politische Theaterarbeit doktert meist an Haltungen herum, die sich schon früh im Elternhaus oder in der Peergroup manifestiert haben. Natürlich verändert sich durch das Projekt nicht alles und (auch radikale) Sichtweisen verändern sich nicht von einem Tag auf den anderen.
Die Echtheit der persönlichen Erfahrung lässt Jugendliche aber zunächst aktiv werden für etwas, wo der Theaterprozess zur aktuellen Wirklichkeit wird. Er entflieht der Machtlosigkeit. Politisches Geschehen und persönliches Erleben prallen im Theaterprozess aufeinander und suchen nach Erklärungsräumen. Gerade Jugendliche orientieren sich, wollen sich zuordnen oder auch abgrenzen. Und manchmal können sie das Erlebte und ihre Suche nicht artikulieren. Theater kann möglicherweise etwas „auflösen“. Im Idealfall gibt es Leerstellen zu füllen, wo es keine Belege, keine Dokumente gibt, wo die (Schüler-) Recherche im Internet aufhört. Dort würden die Spieler:innen Stellen des Nichterzählten, Verschwiegenen oder nicht Gedachten suchen und so eine neue Wirklichkeit auf der Bühne, jenseits der eigentlichen Geschichte schaffen.
Aber wie sollen diese Leerstellen benannt und erkannt werden, wenn wir, wie beschrieben, in der Flut vermeintlicher Lückenfüller und undurchschaubarer Zusammenhänge geradezu untergehen? Auch wenn es naheliegt in Zeiten, in denen allerorts an demokratischen Grundrechten gesägt wird: „Man kann sich nicht ewig im Privaten breitmachen, so spannend ist die Sache wirklich nicht, die Lage der Welt rundum schreit nach Aktivwerdung, nach Mitwirkung, Beteiligung an allen Formen des auf andere Menschen Zugehens, des mühseligen kleinen Entgegenwirkens gegen all die Verletzungen, Verhärtungen, gegen die anwachsende Verzückung durch simplizistische Ideengebäude, durch Faschismen religiöser, monetärer und anderer Art, gegen die Ratlosigkeit angesichts all des globalisierten Elends, gegen die Abgrenzung.“ (Olga Flor)
Theater muss in der Lage sein, das Unaussprechbare auf der Bühne aussprechbar zu machen. Die Kunst sollte dabei immer mehr sein als die Realität, sonst überholt die Wirklichkeit die Kunst. Sie muss übertreiben und sollte auch in dem Unerträglichen poetisch sein. Sie muss extremer werden als das tatsächliche Geschehen. Laut Heiner Müller ist die Aktualität der Kunst das Morgen. Das Theater ist möglicherweise die beste aller Mängelverwaltungen.
Einige Gedanken basieren auf oder sind inspiriert durch folgende(n) Quellen:
- Olga Flor: Politik der Emotionen, Residenz Verlag, Wien 2018 (Alle Zitate und freie Interpretationen basieren auf den Ausführungen in diesem Buch)
- Konrad Peter Grossmann: Macht und Ohnmacht. Von der Schwierigkeit, das eigene Leben zu beeinflussen. In: Systemische Notizen. 2006
- Arnold Illhardt: Ohnmachtsgefühl – ein unmoderner Begriff. Analyse eines psychologischen und gesellschaftlichen Phänomens. Querzeit. Kultur-Blog. 2016 (http://querzeit.org/gesellschaft/ohnmachtsgefuehl-ein-unmoderner-begriff)
- Robert Jungk zum Widerstand gegen Atomrüstung, Krieg und Gewalt und für eine humane Zukunft von Hans Holzinger und Robert Jungk. Dossier Nr. 20 in Wissenschaft & Frieden 1995-3: Gewitter über Paris zurück
- Paul Mecherill : Wirklichkeit schaffen: Integration als Dispositiv – Essay in APUZ 43/2011 (http://www.bpb.de/apuz/59747/wirklichkeit-schaffen-integration-als-dispositiv-essay?p=all)
- Heiner Müller: Die Gedichte. Werke 1. Frankfurt 1998. In: Bath-Symposion 1998, herausgegeben von Ian Wallace, Dennis Tate, Gerd Labroisse, Editions Rodopi. Amsterdam-Atlanta 2000
- Uta Plate: Get up! Stand up! (nicht veröffentlichter) Vortrag im Rahmen der Fachtagung „Schultheater der Länder 2018“ in Kiel
- Branco Simic: Dokument / Theater / Politik (nicht veröffentlichter) Vortrag im Rahmen der Fachtagung „Schultheater der Länder 2018“ in Kiel
* Der 1. Teil ist im TUSCH Newsletter November 2018 erschienen.
Foto: Michael Alexander Müller