Junges Schauspielhaus und Grundschule Bahrenfelderstraße
Kinderstücke sind für Kinder, klar. Aber was passiert, wenn Kinder darüber entscheiden, welche Kinderstücke sie gut, welche sie besser und am besten finden? Können Kinder das überhaupt entscheiden? Ist ihr Urteil ernst zu nehmen? Oder entlockt es den erwachsenen Theaterkennern nur ein müdes Lächeln? Weil die erwachsenen Theaterkenner doch besser wissen, welches Kindertheater für die Kinder gut ist?
Um die Antwort gleich schon vorweg zu nehmen: Ja! Kinder können sehr wohl über Kindertheater urteilen – und ihr Urteil ist tatsächlich ernst zu nehmen! Und noch einmal: Ja! Den erwachsenen Theaterkennern entlockt es wirklich ein Lächeln – aber dieses Lächeln ist ein glückliches, weil mal wieder ein Vorurteil aus dem Weg geräumt, mal wieder ein Klischee in die Wüste geschickt werden kann.
Aber lassen Sie mich von Anfang an erzählen: Beim 5. norddeutschen Kinder- und Jugendtheaterfestival „Hart am Wind“, das im Mai 2016 in Hamburg stattfand und vom Jungen Schauspielhaus und vom Lichthof Theater durchgeführt wurde, gab es eine Kinderjury. Diese Kinderjury, die sich aus zwölf Dritt- und Viertklässlern der TUSCH-Partnerschule des Jungen Schauspielhauses, der Grundschule Bahrenfelder Straße, zusammensetzte, hatte die Aufgabe, aus sieben eingeladenen Kindertheater-Produktionen ihren Favoriten auszuwählen. Und ich, ich durfte zusammen mit der Theaterpädagogin Nicole Dietz diese Kinderjury betreuen, anleiten und begleiten.
Im Vorfeld und bei den ersten vorbereitenden Treffen für diese Kinderjury standen wir eben jenen Fragen gegenüber, die ich oben erwähnte – und dementsprechend fanden wir uns unseren eigenen Vorurteilen und Klischeebildern gegenüber. In diesen, unseren Vorurteilen, fühlten wir uns sogar noch bestätigt, als die Kinderjury zum ersten Mal Kriterien für ein gutes Theaterstück formulierten: Eine spannende Stelle in der Mitte, viel Licht oder gruselige Effekte – auch eine Explosion auf der Bühne wurde als Kriterium für ein gutes Theaterstück benannt. Was sollte das nur werden?
Erschwerend kam hinzu, dass die Kinderjury sieben Theatervorstellungen besuchen würde, die völlig verschiedene Herangehensweisen darstellten, völlig verschiedene Theaterauffassungen widerspiegelten – vom klassischen Repräsentations-Theater bis hin zu einer partizipatorischen Versuchsanordnung. Selbst für versierte Theaterkenner stellt es ein ziemliches Problem dar, diese verschiedenen Theaterformen miteinander zu vergleichen. Wie sollte das nur werden?!
Es wurde. Und wie! Die Kinderjury durchlebte fünf intensive Tage – Theater gucken und über das Theatergucken sprechen, nachdenken und sich austauschen. Nach ersten Verunsicherungen auf Seiten der Kinder, ob das denn überhaupt Theater gewesen sei, was sie da gerade gesehen hätten, und nach ersten Stolperschritten in die Klischeefalle, dass ein Theaterstück doch nicht gut sein könne, wenn sie es nicht mit dem Kopf verstehen würden, durchliefen wir mit der Kinderjury regelrecht eine Schule des Sehens, des Theatersehens. Dass nämlich das Verstehen des Kopfes nur eine kleine Rolle beim Theatersehen spielt, dass das Sehen nur stellvertretend für das gesamte Füllhorn der sinnlichen Wahrnehmung steht und dass Theater ganz wesentlich mit dem Bauch und dem Herzen gesehen werden will – und gesehen werden muss. Gemeinsam haben wir gelacht und gestritten, wir sind gerannt und haben geschwiegen, haben die Augen geschlossen und versucht, in Herz und Bauch hineinzufühlen: Was macht Theater eigentlich mit uns?
Theater macht viel mit uns! Und so entwickelten sich die zwölf Kinder zu richtigen Experten – und sie stellten einen eigenen Kriterien-Katalog zusammen:
Sechs Regeln für gutes Theater
1. Bei einem guten Theaterstück sollten sie als Publikum mitmachen und -fühlen können.
2. Das Theaterstück sollte gut verständlich sein.
3. Es sollte überraschend, vielfältig, spannend und lustig sein.
4. Es sollte Spaß machen.
5. Es dürfe nicht langweilig sein.
6. Das Theaterstück solle berühren und Gefühle erwecken.
Nach diesen sechs Regeln beurteilte die Kinder-Jury schließlich jedes der sieben Theaterstücke und kam zu dem Ergebnis, dass sie ihren Preis an zwei Stücke vergeben würden – zum einen an die „Konferenz der wesentlichen Dinge“ von Pulk Fiktion und zum anderen an „Vom Schatten und vom Licht“ von den Azubis. Nora sagte dazu: „Das Theater-Stück vom „Schatten und vom Licht“ fand ich so gut weil es traurig aber schön war. Das Thema „der Tod“ wird ins lustige gezogen aber nicht veralbert. Es ist eine tolle Idee mit Sand auf einem Projektor zu malen. Es sah schön aus wie die Wasserfarben ins Wasser getropft sind und ineinander verliefen. Als die Echos von uns gekommen sind und die ertrunkenen Kinder darstellen sollten war ich richtig traurig. Auf dem Weg nach Hause habe ich darüber nachgedacht was gewesen wäre wenn sich die Passagiere auf den Leuchtturm gerettet hätten. Meine Lieblings Szene war die mit James Blond. Die war echt lustig.“ Innerhalb von fünf Tagen hatte sich die Kinder-Jury zu einer Jury gemausert, die wohlbegründet ihre Favoriten wählen konnte und deren Urteil keinem erwachsenen Theaterkenner ein müdes Lächeln auf die Lippen zaubert – im Gegenteil: Anerkennung! Wenn sie das nötige Handwerkszeug erlernt haben und sich über ihre eigenen Kriterien klar geworden sind, dann brauchen sie nicht die Bevormundung durch eine Erwachsenen-Jury, die entscheidet, welches Kindertheaterstück für Kinder gut ist. Kinder können ein fundiertes und nachvollziehbares Urteil über Kindertheater fällen.
Und wenn sich am Ende dann doch noch Müdigkeit in unser Lächeln schlich, dann war das schlichtweg den anstrengenden fünf Tagen geschuldet. Und deshalb, noch einmal: Anerkennung! Nicht nur inhaltlich haben die zwölf Kinder-Juroren beim „Hart am Wind“-Festival bestochen.
Text: Carsten Brandau
Foto: Jan-Ole Lops