von Michael Alexander Müller*
Wer mit Bildern kommunizieren will, muss wissen, welche Bilder in welchen Situationen für welche Zwecke geeignet sind. Es genügt nicht, nur zu wissen, wie man sich jeweils selbst den Bildern gegenüber verhält, welche Wirkungen sie auf einen selbst haben. … Eine Bildkompetenz, die ihre Funktion als Schlüsselkompetenz erfüllen kann, setzt Wissen und Verständnis in verschiedenen Feldern voraus.[1]
Als Jugendlicher Rollen zu spielen ist in den Theater-Jugendclubs aus dem Fokus geraten. Eine durchgehende Rolle zu entwickeln gilt als nicht mehr zeitgemäß. Wie Hans-Thies Lehmann Ende der achtziger Jahre formulierte: Ein Rückzug auf Theater als realisierte oder konkretisierte ‚Lektüre’ eines Schrifttextes kann schon deshalb nicht die Antwort sein, weil sie überhaupt nur den enger werdenden Kreis des literarischen Theaters betrifft.[2]
Grenzen, überall Grenzen des Spiels, der Disziplin, der Methode, der Regie. Theater fand so oder so ausschließlich in einer unnatürlichen Welt statt. Der reine Konsum der Aufführungen konnte nur durch konsequente Überschreitungen aufgerissen werden. Das „Theater“ als traditionelle Plattform dramatischer Vermittlung trat zurück und machte Platz für den Ausdruck, die (spontanen) Ereignisse auf der Bühne. Also, warum noch Texte sprechen, die schon x-mal gesagt wurden? Niemand sollte mehr eine verfälschte Person spielen. Was gab es Schöneres als das zum Theater gesteigerte Leben und zum Leben verwandelte Spiel?
Montage als postdramatisches Prinzip – Credo theaterpädagogischer Arbeit
Zu Recht hatte sich eine neu ausgebildete Generation von Theaterpädagog:innen (und Künstler:innen) aufgemacht, die überkommenen Methoden des Arbeitens mit Jugendlichen grundsätzlich zu hinterfragen und neu zu definieren. Performative, genreübergreifende Ansätze, die das moderne Theater verstärkt seit den achtziger und neunziger Jahren verfolgte, fanden ihre Weg in die Ausbildung der Theaterpädagog:innen und in der Folge der Arbeit in den Jugendclubs. Die dramatische Stückinterpretation wich, man muss aus heutiger Sicht sagen völlig zu Recht, zeitgemäßeren theatralen Mitteln. Statements und fragmentarische Textflächen, die die „Lebenswelt“ der Jugendlichen, ihre Erfahrungen und Bedürfnisse spiegelten, nahmen deren Stelle ein. Alles war möglich, jeder Einfluss erlaubt. Jeder Stil konnte kombiniert und montiert werden.
Im gegenwärtigen theaterwissenschaftlichen Kontext wird Montage meist mit postdramatischen Prinzipien zusammengedacht. Das bedeutet, dass beim Montieren einzelner Sequenzen auf einen `Rahmen narrativer Kontinuität‘ verzichtet wird, so dass die einzelnen Elemente nicht nach der Logik einer Geschichte oder einer dramatischen Struktur angeordnet werden. … Die Nutzung von Montageverfahren liegt in theaterpädagogischen Kontexten … aufgrund der gängigen Arbeitsstrukturen nahe: Kurze Probensequenzen, gruppenbezogene Arbeitsweisen (devising) und der Anspruch auf die Vermittlung eines breiten Theaterwissens bringen meist fragmentierte und heterogene szenische Sequenzen hervor.[3]
Der:die jugendliche Spieler:in hatte sich von dem Zwang, ein:e andere:r sein zu müssen, befreit. Die Spieler:innen konnten sich in performativen Situationen auf der Grundlage des Arbeitsansatzes von außen betrachtet komplett einbringen. Außerdem hatte die Arbeitsweise den Vorteil, dass große Gruppen gemeinsam arbeiten und sich wirkungsvoller und in den Spielanteilen ausgeglichener aufstellen konnten. Was gibt es also gegen das rein performative Jugendtheater einzuwenden?
Gefahren des Nicht-Narrativen
Zum einen kann man ihm schwer widersprechen: Denn ähnlich einem Redner hat der Performer das Recht, sich selbst auszudrücken und seine Meinung zu äußern. Aber wen außer sich selbst stellt er da? Er vertritt nicht eine Person auf der Bühne, sondern er entwickelt eine Folie von sich selbst, die er uns präsentieren will. Zum anderen ist ein Produkt wenig angreifbar, wenn es die Rolle außer Kraft setzt und polemisch von der Bühne herab argumentiert. Es werden performative Abläufe abgebildet, die zwar erfahren werden, sich aber oft einer konkreten bildnerischen oder sprachlichen Festlegung (bewusst oder aus der Not) entziehen. Das Publikum sieht sich zunehmend, wie oben von Ute Pinkert ausgeführt, in collagenhaft zusammengefügten Theaterbruchstücken mit authentischer Selbstdarstellung konfrontiert. Dies war und ist in den Momenten eines gut gewählten Themas und der Wahrhaftigkeit der Spieler:innen ein Ereignis. Aber ein Diskurs mit den Figuren ist schwer möglich, da sie keine Entwicklung zeigen. Das Non-Konforme entwickelte sich also in der Jugendtheaterarbeit zunehmend zu einer repetitiven sozialen Form, die oft in ihrer beliebigen Folge der Erzählstränge den Zuschauer aufforderte, sich selbst einen Reim darauf zu machen.
Körper authentischer als der Mund?
Es hält sich das hartnäckige Gerücht, der Körper sei prinzipiell ehrlicher als der Mund. In diesem Lebensmodus gilt die Wahrheit dem Geist zumindest als heikel, wenn nicht gar verdächtig. … Auf der Bühne im Rampenlicht gilt im Postfaktischen das Wort eines Mannes oder einer Frau schon in dem Moment nichts mehr, da es den Mund verlassen hat, ihnen ist nicht zu trauen.[4]
Auch im Jugendclub des Schauspielhauses war der performative Theateransatz längst zum Alltag geworden. Nachdem ich mich zunächst an der Inszenierungsarbeit der Jugendtheater orientiert hatte, flossen bei den Proben immer stärker emanzipatorische, partizipative Ansätze der Theaterarbeit ein. Im Verlauf der frühen Zweitausender Jahre hinterfragte ich zunehmend meine Mittel des performativen Arbeitswerkzeuges. Wofür brauche ich es? Warum nutze ich es? Und musste das Ergebnis eins zu eins in der Aufführung auf der Bühne zu sehen und nachvollziehbar sein? Ich kam zu dem Schluss, dass das Mittel mir taugte, es aber meine Spieler:innen (und auch mich) nur zu einem bestimmten Punkt, einer kreativen Grenze führte. Und wo führte dies in der Aufführung hin, außer zu dem, was wir nicht sowieso schon wussten und erfahren hatten? Die Grenzen, die wir überschreiten und darstellen wollten, waren plötzlich wichtiger als das Spiel. Sie stellte sich quasi wie eine Mauer vor meine Spieler:innen. Und so entstand erneut die Sehnsucht nach einer durchgehenden Erzählung und damit auch einer Rolle!
Weißt du, neulich sagte mir jemand von einer anderen Bühne, ‚Komm doch mal zu uns, bei uns kannst du altmodisches Theater sehn’. Aber das stimmte dann gar nicht. Ich saß dann da drin, und das war der letzte modernistische Scheiß. … Was ist bloß los! Warum halten die Leute das für Tradition? Warum verdreh ‘n die alles? … Es ist also völlig egal, wie wir wirklich sind. Das wusste ich schon immer, dass mich eigentlich nicht interessiert, wie jemand wirklich tickt. Intentionen interessieren mich überhaupt nicht. [5]
Rollenarbeit und Performance
Dabei ging es nicht darum, eine zunächst fremde Rolle sich ähnlich zu machen, sich in eine Person oder Situation einzufühlen. Die Situation erschuf der/die Spieler:in im Probenprozess durch seine/ihre emotionale und körperliche Vorarbeit selbst und verband sie erst zu einem späteren Zeitpunkt mit dem Text. Wie ich versucht habe, Rollen durch die Mittel der Performance zu erarbeiten, aufzubauen und die Performanceanteile dann wieder teilweise verschwinden zu lassen, beziehungsweise zu inkludieren, möchte ich am Beispiel der Arbeit zu „Irgendwo zwischen nicht genug“ (nach Haruki Murakami) erläutern.
Texte von Murakami eignen sich in ihrer dramatischen Anlage für einen solchen Ansatz. Sie geben keine Figuren, sondern eine zu besetzende gedankliche Fläche vor, die sich in einem Zwischenraum zwischen Fiktion und Realität befindet. Diese innere Welt abzubilden und die Person gleichzeitig in der Außenwelt agieren zu lassen, empfanden alle Spieler:innen als eine Herausforderung. Schließlich mussten sie sich der Aufgabe stellen, sich die Figur zu erarbeiten, indem sie sie mit eigener Fantasie, emotionalen Zuständen und frei zu gestaltenden Handlungen füllten. Sie mussten sie zunächst also performen oder besser gesagt „verformen“. Von einer Rolle der klassischen Leseweise, gar von reflektierender Distanz, sind wir allerdings nicht ausgegangen. Was es aber brauchte, war ein Handlungsrahmen. Wir wählten das bei Murakami häufig auftauchende Motiv einer Person in einem Zimmer, die wartet; auf Menschen, die es gibt oder auch nicht, die ihre Geschichten erzählen; vielleicht erzählt die Person auch ihre eigene Geschichte.
Spielaufgaben zur Erschaffung einer Rollenfigur
Im Gegensatz zu Stanislawski, wo wir nach einem Subtext fragen, der beständig unter den Worten strömt, rechtfertigt, beziehungsweise belebt und sucht, fand das Wort in unserer Arbeit nur Handlung vor, die nicht nach einer Rechtfertigung fragte, sondern sich mit Situationen verband, die scheinbar gar nicht zu ihm passten, zunächst sinnlos nebeneinanderher liefen und letztendlich durch ihre bewusste Auswahl zu einer Rolle führten. Wie konnte das funktionieren? Die Spielaufgaben waren frei nach den Zuständen und den Geschehnissen im Text von Murakami gesetzt worden, die keine Erklärungen offenbarten und sich nicht mit vordergründiger Bedeutung aufluden. Außerdem entwickelten wir anhand von abstrakten und surrealen Kunstwerken, unter Hinzunahme von Musik- und Soundinterpretationen der zur Gruppe gehörenden Band, (Bewegungs-) Atmosphären, die später als Handlungstextur fungierten und mit Dialogen versehen wurden. Nachdem auf diese Weise Rollentypen entstanden, überprüften und sortierten wir das Material und fügten die Figuren in das von Murakami vorgesehenen Handlungsset ein. Durch das Abrufen der eigenen Energien und Potenziale erschufen die Spieler:innen im Laufe der Proben in dem Set eine durchgehend erzählte Figur, die sich zu den anderen in Beziehung setzte. Murakamis Dialogsystem gab uns eine narrative Stütze für seine Figuren, die durch uns erzählt wurden. Rollen entstanden, die über die Darstellung der Selbst- und Weltverhältnisse hinausgingen, die Spieler:innen schützten, aber nicht verdeckten, offenlegten und zur Diskussion stellten, weil sie den Zustimmungsbonus des Authentischen verloren hatten. Die Figuren waren dadurch für den Zuschauer offener erfahrbarer, förderten eigene Fantasie, weil es die Möglichkeit gab, sie nicht mit dem:der Spieler:in verbunden zu sehen, sondern mit seiner:ihrer Interpretation, die nicht nach Zustimmung fragte. I
Grenzgang zwischen der eigenen und einer kreierten Person
In diesem Zusammenhang Peter Brook zu zitieren mag seltsam wirken, aber wenn wir davon ausgehen, dass das Wort nicht als Wort beginnt, sondern als ein Endprodukt, das als Impuls anfängt und durch Überzeugung und Verhalten beflügelt, den notwendigen Ausdruck findet,[6] kann das Wort zuletzt seinen Platz in unserem Tun einnehmen. Wir spürten im Laufe der Arbeit die Herausforderung, dass die Abläufe kompliziert wurden, dass wir einen Grenzgang zwischen der Ausstellung der eigenen Person und einer kreierten Person finden mussten, die sich zwischen gesetzter Rolle und grenzüberschreitender Darstellung befand. Die Schwierigkeit der Arbeitsweise lag darin, nicht in das collagenhafte Tun zurückzufallen, sondern gemeinsam einen Erzählstrang zu kreieren. Dieser sollte aber nicht durch einen Subkontext zusätzlich bebildert werden.
Neue Ansätze, sich einer Rolle zu nähern
Abschließend stellt sich die Frage, ob nicht das glückliche Zusammentreffen von Textvorlage und Arbeitsidee den beschriebenen Ansatz der Rollenarbeit ermöglichte. Diese Methode hatte ich bereits in der Vergangenheit bei anderen Arbeiten wie „Die Jungfrau von Orleans“ oder Jelinek-Texten angewendet. Ich habe festgestellt, dass die Spieler:innen, vor allem, wenn die nicht zu verdrängende Zeitgeschichte die Rolle in eine historische Distanz zwingt, die freie Vorarbeit in Frage stellen. Sie wollen den Auftrag des Werkes erfüllen. Die Sehnsucht nach einer Rolle bei jungen Spieler:innen darf, und das ist immer die Gefahr einer rollenbezogenen Arbeit, uns nicht zurückwerfen in die Charakterdarstellung von nicht nachvollziehbarer Zuständen und Figuren. Trotzdem gibt es eine Reihe von neuen Ansätzen in der modernen Theaterarbeit sich einer Rolle zu nähern. Ich glaube, dass die Arbeit an einer Rolle etwas erzählen kann, was andere Formen und Methoden nicht erzielen.
Der Kern des Theaters ist und bleibt die Begegnung mit sich selbst. Das muss nicht im Sinne von Grotowski ein Akt der letzten Selbstoffenbarung sein. Das „Selbst“ muss dabei nicht immer völlig erschöpfend in dem Dargestellten aufgehen. Es kann sich aber in Beziehung setzen und für sich selbst neue Räume und Sichtweisen aufmachen, die nur durch die Auseinandersetzung mit der Rolle entstehen. Für die Spieler:innen kommt es letztendlich darauf an, dass wir eine Rolle erst wirklich verstanden haben, wenn wir die Gründe für ihre Verwendung eingesehen und verinnerlicht haben.[7]
* Michael Alexander Müller ist Theaterpädagoge am Deutschen SchauSpielHaus, Autor, Dramaturg und Mitglied des Leitungsteams TUSCH Hamburg. Er hat bereits mehrere essayistische Beiträge für den TUSCH Newsletter veröffentlicht. Der vorliegende Text ist zuerst in der Zeitschrift Schultheater Nr 17, April 2018, im Friedrich Verlag, Velber bei Hannover, erschienen. Für diesen Newsletter wurde er leicht bearbeitet.
[1] F. Billmayer: Mit der Kunst auf den Holzweg? Was die Orientierung an der Kunst in der Pädagogik verhindert. In: Busse, Klaus-Peter; Pazzini, Karl-Josef (Hrsg.) 2008
[2] Hans-Thies Lehmann: Die Inszenierung: Probleme ihrer Analyse. In: Zeitschrift für Semiotik. Bd.11. 1989. Heft 1, S. 43
[3] Ute Pinkert: Vom Theater zum Film und zurück. Eine Vorrede und fünf Thesen zur szenischen Collage, FOKUS Schultheater 2018. Friedrich Verlag Velber bei Hannover
[4] Christoph Scheurle: Der Gestus der Sprache – Theater zwischen Sagen und Zeigen, FOKUS Schultheater 2016 Friedrich Verlag Velber bei Hannover
[5] René Pollesch: Stück „Roccow Darsaw“, Deutsches Schauspielhaus, Hamburg 2015
[6] Peter Brook: Der leere Raum, Ausführungen zum „Tödlichen Theater“, Alexander Verlag Berlin, 3. Auflage 1997
[7] Klaus Sachs-Hombachs sehr interessante Betrachtungen in: Das Bild als kommunikatives Medium, Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Herbert von Halem Verlag 2013